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Zeilen an Lisbeth


Design: Canva | Blackmortis





Liebe Lisbeth,

 

während der vergangenen Monate bin ich Deinen Spuren gefolgt. Erinnerungen – die meisten davon auf verblassten Schwarzweiß-Bildern festgehalten. Ich fand sie allesamt in einer Schachtel, die Licht ins Dunkel Deiner frühen Jahre brachte.

 

Ich erfuhr von Deinen Eltern und Großeltern, dem Haus auf der Masurischen Seenplatte, tief im verlorenen Herzen Ostpreußens. Von manch` zungenbrecherischem Nachnamen unserer Vorfahren mit der Endung »ski« wurde mir beinah` schwindelig. Urkunden nannten in dürrem Amtsdeutsch das Datum, an dem Du und Deine Familie die Heimat verlassen musstet. Als ich Deine vertraute Handschrift darauf sah, schien es mir fast, als hättest Du mich von der anderen Seite aus berührt.

 

Es war der 24. Januar 1945. Ein Mittwoch, an dem Du für immer aus Elbing fortgegangen bist. Am Tag zuvor waren die russischen Truppen angerückt. Der Geschützdonner und Lärm der Panzer muss Euch in den Ohren gedröhnt haben, als Ihr in buchstäblich letzter Minute aus der umkämpften Stadt geflohen seid. Bevor die Rote Armee einen Belagerungsring darum schloss. Es herrschten Panik und heilloses Chaos. Denn die nationalsozialistische Gauleitung hatte den Menschen monatelang bei schwerer Strafe verboten, zu flüchten. Wer aufmuckte, galt als Defätist.

 

Besonders berührt hat mich ein vergilbtes Stück Papier. Ein Telegramm. An Fräulein Lisbeth adressiert. Die alte deutsche Schrift zu entziffern, fiel mir nicht leicht. Ich hielt eine Todesnachricht in Händen. Die Familie Deines Verlobten Matthias hatte Dir darin mitgeteilt, dass er den Seemannstod gestorben war. Ich sah Dich gemeinsam mit ihm auf Fotografien. Lachend. Momentaufnahmen des Glücks. Von trügerischer Unbeschwertheit. Ein gutaussehender Mann in der Uniform der Kriegsmarine. Sehr schmuck. Ein U-Bootfahrer, wie er aus dem Bilderbuch entsprungen sein könnte.

 

Überhaupt warst Du von den Männern sehr umschwärmt. Wieder sind es die Bilder, welche wortlos davon erzählen. Es verwundert nicht, denn Du warst nicht nur eine schöne Frau, sondern auch eine mit Charisma. Von einer Ausstrahlung, welche die alten Fotos noch heute leuchten lässt. Voller Hoffnung und mit Lebensfreude in den Augen – all den Erfahrungen während der Kriegsjahre zum Trotz.

 

Du und Deine Familie hattet Glück im Unglück. Im Angesicht der Apokalypse, die in diesem schneereichen und eiskalten Winter mit universeller Zerstörungskraft über Ostpreußen hereinbrach. Der Feind war Euch auf den Fersen. Das ehemals blütenweiße Schiff, auf das Ihr all Eure Hoffnungen gesetzt hattet, bot Euch keinen Platz mehr. An einem klirrend kalten Wintertag trat es seine letzte Fahrt an. In den Tod. Wie elend muss Dir zumute gewesen sein, als es Euch zurückließ und Du mitangesehen hast, wie es sich auf die See entfernte. Ich habe lange Zeit gerätselt, auf welche Weise Du mit Deiner Familie von Gotenhafen nach Weißenburg gelangt sein könntest. Nirgends gab es einen Hinweis. Sämtliche Anfragen bei den Marinearchiven liefen ins Leere. An Passagierlisten heranzukommen, erwies sich als schwierig. So sie denn in dem Durcheinander überhaupt geführt wurden oder vollständig waren. Denn wäre es nicht naheliegend gewesen, auf das nächste Schiff zu warten? Oder hattet Ihr nach der Gustloff-Katastrophe Furcht, Euch dem Meer anzuvertrauen? Des Rätsels Lösung kam schließlich von meinem Vater. Nun fügte sich alles ineinander. An diesem Punkt setzte auch meine Erinnerung wieder ein. An Deine Erzählungen während meiner Kindheit, die schon fast vergessen gewesen waren. Von endlosen Flüchtlingstrecks, hoffnungslos überfüllten Zügen und russischen Tieffliegern, die auf die fliehenden Menschen schossen. Von Panzern, die sie erbarmungslos überrollten, bis sich der Schnee blutig färbte.

 

Was mir über einen längeren Zeitraum Kopfzerbrechen bereitet hat, war der Zeitpunkt Deiner Ankunft in Weißenburg. Du kamst Wochen später nach Deiner Familie an. Zunächst dachte ich, dass Dich die Kriegswirren von den Anderen getrennt und versprengt hätten. Das Melderegister gab mir darüber Auskunft, wo Du währenddessen gewesen bist. Doch nicht über das Warum. Der Zufall half mir weiter. Es war wiederum ein Foto, das sich in besagter Schachtel fand. Sie erwies sich als wahres Schatzkästchen. In diesem Augenblick musste ich lächeln. Es herrschte ein unerbittlicher Krieg, für den Du am allerwenigsten konntest. Du warst jung, schön und wolltest ein Teil vom Glück. Dein Leben genießen. Für einige wenige gestohlene Tage. Wie sollte man Dir das nicht nachempfinden?

 

Wenn ich etwas bedauere, dann ist es, versäumt zu haben, Deine Geschichte zu Lebzeiten aufzuschreiben. Wie Vieles hätte ich Dich noch fragen mögen!

 

Was bleibt, sind die Erinnerungen. An Lili Marleen und Deinen vorsintflutlichen Plattenspieler, bei dem man die Nadel noch von Hand ansetzen musste. Du hast das Lied so oft gespielt, dass die Platte irgendwann einen Sprung bekam. Ich weiß den Text heute noch auswendig. Es waren viele kleine Begebenheiten, derer ich mich nun wieder entsann. Schließlich unser letzter gemeinsamer Moment. Ich saß an Deinem Bett und hielt Deine zerbrechliche Hand in der meinen. Fühlte ihr schon kraftlos gewordenes Streicheln. Obwohl ich wusste, dass wir uns lebend nicht mehr wiedersehen würden, gab ich Dir das Versprechen, Dich Weihnachten zu besuchen. Weihnachten, das Du immer sehr gemocht hast. Als ich zurückkehrte, warst Du fort. Es blieb mir nur noch, Blumen auf Dein Grab legen. Ein endgültiger Abschied.

 

Ich habe Deine Geschichte aufgeschrieben, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Ich möchte Dir gerne das zweite Buch um den Nachtgieger widmen. Es ist lange her, dass Du mir von ihm erzählt hast. Vermutlich würdest Du mir mit Deinem unverkennbaren ostpreußischen Zungenschlag und Deiner geradlinigen Art auf den Kopf zusagen, welch` verrückte Flausen ich darin hätte. Bücher zu schreiben! So etwas hat es in unserer Familie noch nie gegeben. Fast kann ich Dich mit mir schimpfen hören. Doch ich weiß: Insgeheim hätte es Dir Freude bereitet.

 

Die Ostpreußische Apokalypse und die Kriegsverbrechen der Roten Armee wurden über lange Zeit hinweg totgeschwiegen. Dennoch sind die Ereignisse von damals nicht vergessen. Du hast es zeitlebens nie getan. Sie bleiben unauslöschlich in unserer Familiengeschichte verwurzelt. Es gibt Taten, für die es auf dieser Erde keine Vergebung geben kann. Denn jede Medaille hat zwei Seiten.

 

Manchmal blicke ich nach Osten. Die Vergangenheit wiederholt sich – wenn auch unter anderen Vorzeichen. Fast achtzig Jahre nach dem Ende des NS-Regimes wird wiederum ein Angriffskrieg auf dem Europäischen Kontinent geführt. Dessen Gefüge ist spürbar ins Wanken geraten. Es ist, als sei die Menschheit auch im 21. Jahrhundert nicht fähig, Konflikte ohne Gewalt auszutragen.

 

Liebe Lisbeth, ich bin sehr froh darum, dass Du nicht mitansehen musst, wie der fragile Frieden der letzten Jahrzehnte mehr und mehr in Stücke geht und Du noch in der Illusion einschlafen durftest, unsere Heimat würde so bewahrt, wie sie es einmal war!

 

Ruhe in Frieden.

 

 

M.

 



 



Über allem ein Lied: Lili Marleen

 

 An dieser Stelle hätte ich Lisbeth zuliebe gerne einige Verse aus Lili Marleen zitiert. Leider steht diesem Wunsch das Urheberrecht entgegen. Nach langer Zeit habe ich mir kürzlich eine alte Aufnahme mit Lale Andersen von 1942 angehört. Es war das Jahr, in dem Goebbels das Lied verbieten ließ. Er nannte es einmal »die Schmonzette mit dem Totenkopfgeruch«.

 

Lili Marleen ist ein melancholischer Schlager. Die Originalfassung wurde am 2. August 1939 veröffentlicht. Es handelt von einem Wachtposten, der an seine Liebste denkt und sich daran erinnert, wie sie einst an der Laterne vor der Kaserne beisammen standen. Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Stück zum Symbol für Heimweh, Trennung und Sehnsucht. Es erlangte internationale Berühmtheit und bewegte die Menschen, obwohl es aus Nazideutschland stammte. Soldaten über alle Fronten hinweg warteten Abend für Abend bereits, wenn Lili Marleen kurz vor zehn von Radio Belgrad gespielt wurde. Für wenige Minuten kehrte Ruhe ein. Wegen eines Liedes, das sogar die Waffen zum Schweigen brachte. Als der Sender es 1941 kurzfristig aus dem Programm nahm, war der Protest überwältigend – nicht nur aus den eigenen Reihen. Auch bei den Alliierten wurde der erste deutsche Millionenseller frenetisch gefeiert. Innerhalb der britischen Truppen machte es bereits während des Nordafrika-Feldzuges im selben Jahr die Runde. Überall in der Wüste wurde Lili Marleen gesungen und gepfiffen.

 

Gegen die Popularität des Liedes kam selbst Goebbels nicht an. Er musste Lale Andersen wieder auftreten lassen, als nach ihrem Bühnenverbot eine Falschmeldung der BBC für Aufsehen sorgte, sie säße in einem Konzentrationslager ein. Die Sängerin war bei den nationalsozialistischen Machthabern in Ungnade gefallen, da sie sich geweigert hatte, an einer Besichtigung des Warschauer Ghettos teilzunehmen und ihre privaten Kontakte zu jüdischen Emigranten bekannt geworden waren. Allerdings blieb es ihr weiterhin untersagt, Lili Marleen vor Soldaten vorzutragen. Doch ließ es sich das Publikum nicht nehmen, es anstelle von Lale Andersen zu singen, während sie auf der Bühne stand und zuhörte.

 

Das Stück mag heute vollends aus der Zeit sein. Sentimental, verstaubt, nah am Kitsch vorbei. Doch ich verstehe, weshalb Lisbeth es so liebte. Es war das Schicksalslied des Zweiten Weltkriegs und in gewisser Weise ein Leitstern ihrer Jugend. Lili Marleen ist wunderschön und anrührend zu einer eingängigen Melodie gereimt. Das Gefühl darin hat all die Jahrzehnte überdauert – nicht zuletzt dank Lale Andersens dunklem Timbre und der außergewöhnlichen Art, wie sie die Worte betonte.







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