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Roesias
Edelweiß

Fragment

Eine schlichte Blüte

Erinnerung in einer Schachtel

Dunst dampft vom Boden. Rasch verflüchtigt er sich im gleißenden Licht. Es ist August. Ein verträumter Garten liegt unter der glutheißen Morgensonne. Er steht in voller Rosenblüte. Zartpastell gefärbt verströmen sie einen hinreißenden Duft.

 

Eine Dame steht inmitten all der Pracht. Düster wie Raben, in einem schwarzen Kleid. Es ist schmucklos, hochgeschlossen. Sie ist lieblich, die Haut blass, von kühlem Antlitz, mit dunklem Haar. Dem gängigen Geschmack nach wäre sie wohl nicht schön zu nennen. Über modische Ideale macht sie sich jedoch zuletzt Gedanken. Sie ist ein Freigeist. Einer, der leidenschaftlich träumt und mit Hingabe liebt. Dabei verliert sie sich oft in sich selbst. Und manchmal findet sie in der Dunkelheit unerwartet ein Gedicht.

 

Es müssen wohl ihre Augen sein, die den Betrachter zuerst in ihren Bann ziehen. Groß, grau wie ein Sturm im Herbst. Distanziert – und fesselnd zugleich. Als würde sie ein Geheimnis hüten. Eines, das an ihrer verletzten Seele zehrt. Eines, das sie mit ins Grab nehmen wird.

 

Schweigsam hebt sie das Gesicht dem Licht entgegen. Ihr Name ist Roesia Black.

 

Sie ist ein Geschöpf der viktorianischen Ära. Eine Poetin, die sich um Konventionen nicht schert – oder um Erwartungen, die an sie gestellt werden. In einer Zeit, die von Männern und deren Gedanken dominiert wird. Sie tut etwas Unerhörtes, als sie sich auf unpassende Weise verliebt. Zugleich begehrt sie die schwarze Rose, ein rätselhaftes und todbringendes Geschöpf der Nacht.

 

Roesia ist für mich unverbrüchlich mit ihrem Rosengarten verbunden. Sie hegt und pflegt ihn wie einen kostbaren Schatz, während sie sich in einen längst vergangenen Sommer zurückträumt. Die Jahreszeiten vergehen. Blätter verfärben sich, fallen. Die Natur stirbt einen unaufhaltsamen Tod. Es wird Winter. Schnee netzt Roesias Antlitz. Krähen ziehen trostlos Bahnen durch die frostklirrende Ödnis.

 

Ich weiß nicht, woher sie kam. Plötzlich war sie da. Ich sah sie an, und mir war, als würde ich in einen Spiegel blicken. Tief in Roesias melancholische Seele hinein. Anfangs war sie ein leeres Blatt Papier. Allmählich füllen sich die Seiten. Wir sind uns nah geworden. Manchmal fließen Einsamkeit und Sehnsucht in berührenden Worten aus ihr heraus. In diesen Augenblicken würde ich sie gerne in die Arme schließen. Ihr irgendeine Art von Trost spenden. Doch ich weiß nicht wie. Denn ich habe keine Worte, ihren Kummer zu lindern. Vielleicht vermag es die Zeit. So sagt man.

 

Doch da war ein Hauch. Ein leiser Klang aus der Vergangenheit. Ob sie ihn sich erträumt hat?

 

Versteckt in ihrer Hand hält sie eine Schachtel. Schaute man hinein, so würde man sich fragen, weshalb sie eine verdorrte Blume darin verwahrt. Zumal es keine Rose ist. Sondern ein Gewächs völlig anderer Art.

 

Ein schlichtes Edelweiß.

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