Auf Tuchfühlung mit Hermann
Illustration: Canva | Blackmortis
Als ich vor einigen Tagen nach einem langen Bürotag in den Flur unseres Mehrfamilienhaues trat, erregte ein schwarzer Fleck an der Wand meine Aufmerksamkeit. Neugierig näherte ich mich, da ich im dämmerigen Licht nicht genau erkennen konnte, worum es sich dabei handelte. Nur, um im selben Augenblick mit einem erschreckten Quieken zurückzuweichen. Es war eine Spinne. Und was für eine! Ein durchaus imposanter Brocken von geschätzt zehn bis elf Zentimetern (die acht langen, kräftigen Beine in die Rechnung mit einbezogen).
Ich muss gestehen, dass es mein erster Impuls war, den gruseligen Zeitgenossen sich selbst zu überlassen und mich schnellstmöglich vom Schauplatz des Grauens in Richtung Aufzug zu entfernen. Doch seltsamerweise überwog dann doch die Neugierde. Wann bekam frau schon einmal die Gelegenheit, sich ein derart stattliches Exemplar aus unmittelbarer Nähe zu betrachten? Also zückte ich mein Smartphone und pirschte mich behutsam an den schwarzbraun gefärbten Achtbeiner heran. Irgendwo in meinem Gedächtnis war eine längst vergessene Information abgespeichert, an die ich mich nun erinnerte. Spinnen reagieren blitzartig auf Vibrationen, Schall und Bewegungen. Ihre Umgebung nehmen sie mit den feinen Borsten und Härchen am Körper – ihren wichtigsten Sinnesorganen – wahr. Ich wollte den ungebetenen Hausgast freilich nicht aufschrecken, zumal er so wunderbar ruhig und friedlich an der Flurwand klebte. Tatsächlich unternahm er auch keinerlei Anstalten, mich anzuspringen oder gar zu attackieren und zu beißen. Stattdessen verhielt er sich völlig still, als ich ihn in aller Seelenruhe ablichtete und mit zunehmender Faszination betrachtete. Ich konnte nun erkennen, dass er hauerähnliche Fühler hatte, hübsch behaart war und hellbraune Flecken seinen Leib schmückten. Als ich schließlich in den Aufzug stieg, war mein intuitiver Ekel wie weggeblasen. Es gab keinen Grund, sich vor diesem fremdartigen Wesen zu ängstigen! Die zunächst unheimliche Begegnung sollte mich wider Erwarten weiter beschäftigen.
Abends besah ich mir das Foto genauer. Ich schickte es meiner Freundin Ines. Postwendend erhielt ich von ihr ein von Herzen kommendes »Igitt!« Mit Ausrufezeichen versehen. Als ich das Bild in meinem WhatsApp-Status postete, fielen die Reaktionen ähnlich niederschmetternd aus. Der friedliche Achtbeiner rief allgemeine Ablehnung, wenn nicht sogar ausgesprochene Abscheu, hervor. Allein aufgrund seines für den Menschen wenig attraktiven Äußeren. Obwohl meine erste Reaktion auch nicht viel positiver ausgefallen war, wollte ich die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen. Ich empfand es als ungerecht, ein Lebewesen unreflektiert als ekelhaft oder hässlich abzutun, ohne kaum etwas darüber zu wissen. Vor allem ließ mich ein Gedanke nicht los: Hatte mein neuer Flurbewohner nicht wesentlich mehr Grund, den Menschen zu fürchten als umgekehrt? Vielleicht gefallen wir Zweibeiner ihm sogar noch weniger als er uns? Mit dem Unterschied, dass es ihm im Gegenzug nicht vergönnt ist, uns als missliebige Störenfriede je nach Lust und Laune zu zerquetschen oder mit dem Staubsauger zu traktieren! Nachdem ich den Dingen gerne auf den Grund gehe und sie bei einem Namen nenne, taufte ich die Spinne kurzerhand »Hermann«. Dann beschloss ich herauszufinden, mit welcher Art ich es überhaupt zu tun hatte.
Dr. Google half mir auf bewährte Weise weiter. Nach dem Abgleich einiger Bilder handelt es sich bei meinem Hermann mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein große Winkelspinne (Eratigena atrica). Ob er tatsächlich ein Männchen ist, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Sollte sich wider Erwarten einmal ein Vertreter der Deutschen Arachnologischen Gesellschaft hierher verirren, wäre ich auf seine Expertise gespannt. Doch immerhin passen Größe und Beschreibung. Hermann ist behaart, weist die typische schwarzbraune Färbung auf, hat einfarbige Beine und trägt jeweils drei symmetrisch angeordnete hellbraune Flecken auf dem Hinterleib.
Die große Winkelspinne ist auch als Hauswinkelspinne oder Hausspinne bekannt und gehört wegen der Bauweise ihres Netzes in Gebäudeecken zu den Trichterspinnen. Oft hockt sie stundenlang regungslos in ihrer trichterförmigen Wohnröhre und wartet auf Beutetiere, die sich in den Fangfäden verheddern. Wenn dies geschieht, kommt sie blitzschnell hervor, beißt ihr Opfer und injiziert ihm dabei ein lähmendes Gift, bevor sie es im Schutz ihrer Höhle verzehrt. Dabei stehen besonders Asseln und Insekten auf dem Speiseplan. Winkelspinnen suchen die Nähe des Menschen, mögen feuchte Räumlichkeiten und halten sich gerne in Häusern, Schuppen und Kellern auf. So bevorzugen sie dunkle Orte, an denen sie über längere Zeiträume ungestört bleiben. Bei einer Körpergröße von zehn bis sechzehn Millimetern und Beinen von bis zu elf (!) Zentimetern Länge können große Winkelspinnen sechs Jahre alt werden. Die Weibchen sind kannibalisch. Hermann ist also gut beraten, sich vorzusehen, damit er nach dem Liebesspiel nicht von seiner Auserwählten verspeist wird! Selbiges kann ihm ebenso gut widerfahren, wenn Madame nicht in Stimmung ist.
Im Spätsommer und Herbst gehen die paarungswilligen Männchen auf Wanderschaft, um eine Herzdame zu finden. Wenn es draußen kühl wird, kommen sie durch geöffnete Fenster und Spalten in die Häuser – auf der Suche nach einem gemütlichen und warmen Plätzchen zum Überwintern. Es ist übrigens ein Irrglaube, dass sie aus Abflussrohren oder Syphons kriechen. Während dieser Jahreszeit kommt es vermehrt zu unerwarteten Begegnungen mit dem Menschen, der wenig Verständnis für die wieselflinken Krabbler aufzubringen vermag. Eine große Winkelspinne kann immerhin eine beachtliche Geschwindigkeit von fast zwei Stundenkilometern erreichen.
Ehrlich gesagt konnte ich Spinnen bisher wenig abgewinnen, geschweige denn, dass ich jemals beabsichtigt habe, mich näher mit ihnen zu beschäftigen. Nachdem ich nun jedoch Bekanntschaft mit Hermann geschlossen habe, akzeptiere ich seine Anwesenheit und habe ganz nebenbei einige wissenswerte Dinge über seine Art und deren Lebeweise erfahren – und vielleicht auch etwas Verständnis hinzugewonnen. Winkelspinnen mögen auf den ersten Eindruck gruselig und abschreckend auf uns wirken, doch sind es trotz ihrer Andersartigkeit sehr faszinierende Tiere. Je mehr ich über sie gelesen habe desto mehr konnte ich mich auch für Hermann erwärmen.
Nachdem ich ohnehin ungern Hand an ein Mitgeschöpf lege und seit jeher verirrte tierische Eindringlinge aller Art sanft ins Freie hinausbefördere, sehe ich einer möglichen Hermann-Begegnung in meiner Wohnung relativ gelassen entgegen. Sollte er sich jemals dorthin verirren, genügen ein großes Glas und ein festes Stück Papier oder Bierdeckel, um ihn zu fangen und unversehrt an einen sicheren Ort zu bringen. Wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, habe ich mir vorgenommen, ihn in aller Ruhe aus unmittelbarer Nähe zu betrachten. Alternativ ließe er sich auch auf einem Besen aufnehmen und auf diese Weise nach draußen tragen.
Spinnen (und nicht nur diese) sterben sehr qualvoll, wenn sie mit dem Staubsauger eingesaugt werden. Entweder gehen sie an ihren Verletzungen zugrunde oder sie verdursten jämmerlich. Dabei sind sie ein wichtiger Teil des Ökosystems und leisten einen wertvollen Beitrag, indem sie Schädlinge dezimieren.
Winkelspinnen sind für den Menschen ungefährlich. Zwar können sie beißen, doch tun sie es nur, wenn sie in arge Bedrängnis geraten. Ein Biss wäre zwar spürbar, aber ohne dauerhafte Wirkung. Weder sind sie für uns giftig noch verhalten sie sich aggressiv.
Hermann indes lebt unbehelligt im Hausflur und macht fleißig Jagd auf Asseln und Co. Ich hoffe, dass meine Nachbarn ebenso entspannt bleiben und ihn in Frieden an seinem heimeligen Flecken überwintern lassen. Irgendwie ist mir der nun nicht mehr ganz so gruselige Achtbeiner schon ein kleines bisschen ans Herz gewachsen!
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