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Wallfrieds
Wacht

seit Fischgedenken

WallfriedsWacht

Waller-
erzählung

vom Großen Brombachsee

Dämmerhaftes Zwielicht. Gemächlich schnürt Wallfried durch das dunkle Wasser des Großen Brombachsees. Bewegt sich lautlos. Geschmeidiges Raubfischgleiten in undurchdringlichen Tiefen. Der See liegt an einem sich öffnenden Tal im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen. Einem beliebten Naherholungsgebiet im westlichen Mittelfranken.

Es ist Juni. Die Wassertemperatur ist beständig gestiegen – von den sommerigen Tagen gewärmt. Die Abendsonne tastet mit ihren goldenen Strahlen in die geheimnisvollen Tiefen des Sees. Zum Grund hinab sind es an einigen Stellen bis zu zweiunddreißig Meter. Es ist Wallfrieds Revier. Seit Fischgedenken. Und das seiner Artgenossen. Siluris glanis. Europäischer Wels. Waller. Es sind ihrer unzählige. Niemand weiß, wie viele von ihnen unbemerkt im Kleinen und Großen Brombachsee sowie dem Igelsbachsee umher schwimmen. Manche sagen, es seien vielleicht sogar tausende. Fünf Kilometer lang und zwei Kilometer breit erstreckt sich der Stausee über eine Wasserfläche von bis zu neun Quadratkilometern.

Wallfried lebt schon immer hier. Seit Fischgedenken. Vermutlich hat er noch vor der Einweihung der Talsperre zur Jahrtausendwende das Licht der Welt erblickt. Damals, als er ein winziges, juveniles Fischlein war. Seither sind Jahrzehnte ins Land gegangen. Friedlich. Gleichförmig. Ineinander fließend. Wallfried hat sich unauffällig im See verborgen, mit dessen samtiger Düsternis verschmolzen. Hat dort auf Beute gelauert. Sich geschickt an sie herangeschlichen. Sie gejagt. Sich unbehelligt an ihr satt gefressen. An Wasservögeln. Samtenten. Prachttauchern. Zwergsägern. Und Fischen. Aalen. Schleien. Karpfen. Renken. Als Zwischenmahlzeit durfte es auch gerne einmal ein kleinerer, weniger wehrhafter Artgenosse sein. Wallfried erweist sich als ein Kannibale, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Ein opportunistischer Jäger. So ist er stetig gewachsen. Prächtig gediehen. Annähernd dreißig Lenze zählend, ist er nun über zwei Meter lang und brächte es auf ein Gewicht von über neunzig Kilo – wenn es denn einmal irgendeiner wagte, ihn zu wiegen. Doch weshalb sollte dies jemand tun?

Wallfried ist dämmerungs- und nachtaktiv. Wie es den Raubfischen für gewöhnlich zu Eigen ist. Er ist ungewöhnlich groß. Das Prachtexemplar eines Wallers - und überaus klug. Zudem mit einem hervorragenden Geruchssinn sowie einem sehr sensiblen Gehör ausgestattet. Auch sein Tastsinn ist dank der langen Barteln perfekt entwickelt. Kein anderes Tier kann ihm bei diesen gewaltigen Ausmaßen etwas anhaben. Er steht ganz oben in der Nahrungskette. In seinem Revier. Seit Fischgedenken. Am liebsten frisst er fette, wohlgenährte Samtenten. Zartfleischige Entenküken. Mmh. Die schmeckten wirklich sehr lecker. Saftig. Roh. Frisch. Blutig. Wie wunderbar sie in seinem Maul zappelten! Auf routinierte Weise pirscht er sich bei der Jagd an einen leichtsinnigen Wasservogel heran, zieht ihn mit sich hinab - in die Finsternis des Sees -, um ihn schließlich hungrig zu verschlingen. Räuber, der er ist.

Von Zweibeinern hält er sich seit jeher wohlweislich fern. Egal, ob sie nun schwammen oder ihre seltsamen, heimtückisch aussehenden Haken an langen Schnüren ins Wasser hinab hängten. Beinah’, als wollten sie damit einen Seebewohner anlocken. Wallfried ist nicht nur ein kluger, sondern auch ein überaus vorsichtiger Fisch. Argwöhnisch Aus diesem Grund ist er auch erst so groß und alt geworden. Natürlich weiß er nicht, dass Menschen in der Nahrungskette weit über ihm stehen, doch sein Instinkt warnt ihn. Vor den spitzen Haken. Mit Ködern daran. Gewürm. Fett. Sich windend. Verlockend. Mmh. Vielleicht ein Happen, nur ausnahmsweise…? Schon nimmt Wallfried Anlauf. Und dreht im letzten Moment ab. Etwas stimmt mit dem Haken ganz und gar nicht. Er kann die Gefahr, die davon ausgeht, förmlich riechen. Vorsicht war nicht umsonst die Mutter der Porzellankiste!

Am heutigen Frühabend ist der sonst recht friedfertige Wallfried allerdings rastlos. Aufgeregt gleitet er hin und her. Nahe einer Schwimminsel wacht er gewissenhaft im Flachwasser über seine Brut. Wie es bei den Wallermännchen üblich ist. Befächelt sie im warmen See fürsorglich mit den Flossen. Es dämmert. Unbekannte Geräusche von oben wühlen sich zu ihm hinab. Lärm. Dissonant. Laut. Alles dröhnt schmerzhaft. In seinen Ohren. Wallfried trägt sie wie alle Fische im Kopf. Er zieht enge, beschützende Kreise um seinen Nachwuchs. Sträubt die Schuppen, um dem unerträglichen Krach zu entkommen. Irgendwie.

Plötzlich bewegt sich das Wasser. Es ist aufgewühlt. Blasen steigen hoch. Unruhe fällt über ihn her. Zweibeiner. Viele. Massen von Zweibeinern. Zu viele. Lachend. Übermütig. Schwimmend. Kreischend. Betrunken. Sie nähern sich der Schwimminsel. Wallfrieds Revier. Seit Fischgedenken. Kommen seinem Laich gefährlich nahe. Arme, Beine pflügen das Wasser. Rücksichtslos. Unachtsam. Wallfried sieht rot, nimmt Maß, beschleunigt. Öffnet sein großes Maul mit den fleischigen Lippen. Schnappt nach den Extremitäten der ahnungslosen Schwimmenden. Gräbt kleine, flache Bürstenzähne in ungeschützte Haut. Tumult bricht aus. Das schreckliche Bassgetöse wummert derweil in unverminderter Lautstärke weiter. Nun durchbrochen von furchtsamem Geschrei. Musik für Wallfrieds gepeinigtes Gehör. Er genießt die Panik der Zweibeiner aus vollen Zügen, weiß nicht, was ein Techno-Festival bedeutet. Beißt, schappt und wütet munter weiter. Dann taucht er ab, seine kostbare Brut weiter mit Wasser zu befächeln und väterlich zu umsorgen.

Wenig später fällt von oben ein Schatten auf Wallfrieds Nest. Sein Nachwuchs gedeiht prächtig darin, sorgsam hält er Wacht. Mit aller Vorsicht schleicht er sich zur Oberfläche empor, durchbricht sie mit seinem gewaltigen Kopf und wagt einen sondierenden Rundumblick. Etwas pfeift ihm ums Haupt, verfehlt ihn. Um Haaresbreite! Ein Geschoss. Von einem Zweibeiner abgefeuert. Er sitzt in einem Boot. Zielt mit einem unbekannten Gegenstand auf ihn. Da! Etwas zischt wiederum haarscharf an Wallfried vorbei. Verfehlt ihn nur knapp. Glück gehabt. Wallfried taucht erneut ab. In die Geborgenheit dunkler Tiefen. Fühlt instinktiv, dass der Mensch ihm ans Leder, pardon: an die Schuppen, will.

Behutsam wagt er sich nun von der anderen Seite an den Kahn heran. Aus dem Hinterhalt. Wallerjagdverhalten. Im Rücken des Häschers. Der starrt konzentriert ins Wasser. An der falschen Stelle – dummer Zweibeiner - die seltsame, bedrohliche Apparatur weiter auf die Oberfläche gerichtet.

Wallfried weiß weder was ein Polizist noch eine Pistole bedeuten. Doch sein Überlebensinstinkt warnt ihn. Der Jäger ist sicherlich gekommen, ihn zu suchen und einzufangen. Ob er ihn fressen will? Wallfried überlegt nicht lange. Schnellt aus dem Wasser wie ein Weißer Hai vor Südafrikas Küste und springt dem Zweibeiner mit voller Wucht in den Rücken, bevor er mit einer eleganten Drehung wieder in seinem ureigensten Element landet und in Windeseile abgetaucht ist. Befriedigt vernimmt er einen erschrockenen Aufschrei - das lautstarke Plätschern, als der Zweibeiner sein Gleichgewicht verliert und wesentlich weniger geschmeidig als er selbst in den See plumpst.

Wallfried nutzt gnadenlos die Gunst der Stunde und schnappt unter Wasser nach dessen Hand. Pfui! Zweibeiner waren nun gar nicht nach seinem Geschmack! Es folgt hektisches Strampeln, und voilà ist der schlaue Waller auch schon im Besitz des unheilvollen Gegenstands. Mit seinem großen Maul trägt er ihn hinab zum Grund des Sees, lässt das unselige Ding in den Schlamm fallen.

Wallfried gibt Vollgas. Schwimmt eine große Kurve. Nähert sich von der anderen Seite bedächtig seiner Brut. Es herrscht wohltuende Stille im Wasser. Das aufdringliche Wummern ist verstummt, der bedrohliche Schatten fort. Endlich! Alles ist wieder so, wie es sich gehört.

Nach der Brutzeit wird Wallfried Ende Juli spurlos in den Tiefen des Stausees verschwinden. Selbst mit dem Echolot kann ihn dann keiner mehr orten. Der Große Brombachsee ist Wallfrieds Revier. Und das von vielen seiner Artgenossen. Seit Fischgedenken. Wenn ein Mensch sich hinein wagt, sollte er es mit Respekt und Umsicht tun. Achtsam. Manchmal schlägt Mutter Natur zurück, zeigt ihre Zähne: Mittelfrankens wehrhafte Waller sind mit äußerster Vorsicht zu genießen. Also liebe Zweibeiner: Seid in Zukunft besser auf der Hut!

 


Fabia Mortis

im Juli 2025

 

Ein kurioser Wallervorfall im Juni 2025 im Großen Brombachsee hat mich zu dieser Erzählung inspiriert. Der streitbare Fisch wurde bis weit über die Grenzen des Landkreises Weißenburg-Gunzenhausen bekannt und beschäftigt mittlerweile sogar die Justiz. Für besagtes Exemplar ging es in der Realität ungünstig aus – es landete am Ende als Filet auf den Tellern der Gäste im Treuchtlinger Gasthof »Zum Goldenen Lamm«. Welse können in freier Wildbahn bis zu achtzig Jahre alt werden. Nachdem ich ihm das Erreichen dieses stattlichen Alters von Herzen gegönnt hätte, habe ich ihm – zum Fischgedenken – eine Kurzgeschichte geschrieben. Was wäre geschehen, wenn…?

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