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Rosi und der
Nachtgieger

Eine Gruselmär aus Mittelfranken

Mittelfranken im Jahr 1979

Kühe fallen aus heiterem Himmel auf fahrende Autos. Schwäne verschwinden spurlos vom malerischen Seeweiher. Es regnet blutige Federn. Ein siebenjähriges Mädchen wird Nacht für Nacht von glühenden Augen aus dem Kleiderschrank beobachtet.

Im beschaulichen Weißenburg treibt eine uralte Schreckgestalt ihr Unwesen. Es ist der dämonische Nachtgieger, der hoch über der Stadt in einer Festung haust. Tagsüber schläft er - kopfüber hängend wie eine riesenhafte Fledermaus - in einem verlassenen Turm. Doch nachts kommt er aus seinem Unterschlupf im Kalten Eck heraus und schwebt auf lautlosen Schwingen in den schlafenden Ort hinab. Um dort unartige Kinder zu jagen und zu fressen, die nicht brav in ihren Betten liegen.

Wehe dem, der sich nicht Schlag zweiundzwanzig Uhr im Haus in Sicherheit gebracht hat!

Auf den Spuren
der Vergangenheit

Abenteuerspielplatz

»Schau dasd ham kummsd,
sunsd hould di fei der Nachdgiecher.«
Fränkische Redensart
 

»Sieh zu, dass Du nach Hause kommst,
sonst holt Dich der Nachtgieger.«

frei übersetzt

Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich gerne auf dem Gelände des römischen Kastells in meiner Heimatstadt Weißenburg gespielt. Für uns Kinder war es damals ein toller und sehr spannender Ort. Es gibt dort einen rekonstruierten Limes-Wachturm, die Überreste einer antiken Fußbodenheizung sowie die originalgetreue Replik eines Brunnens. Ich bin oft hineingestiegen und wie ein Äffchen hernach herausgeklettert, die unregelmäßigen Mauervorsprünge geschickt ausnutzend. Einmal habe ich es nicht nach oben geschafft und saß stundenlang in dem Brunnen fest. Irgendwann kam ich mit Müh‘ und Not doch heraus und habe mir geschworen, nie wieder hinabzusteigen. Natürlich habe ich diesen Schwur schon bald wieder gebrochen. Der Brunnen übt noch heute eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich aus. Wenn ich auf Heimatbesuch bin, spaziere ich gerne über das Gelände des Castrum Biriciana, das Teil des UNESCO-Weltkulturerbes Obergermanisch-Rätischer Limes ist. Hin und wieder riskiere ich dann einen neugierigen Blick in den Brunnen. Mittlerweile ist er leider mit einem Gitterrost abgedeckt und von Unkraut überwuchert. Schade, ich wäre wirklich zu gerne noch einmal hinunter geklettert! Aus der kindlichen Perspektive heraus erschien er mir sehr tief. Bei den Recherchen zu »Rosi und der Nachtgieger« habe ich sorgfältig nachgemessen. Vom aufgeschütteten Brunnengrund bis zum Rand sind es exakt 2,10 m.

Die folgende Leseprobe beschreibt, was mit einem kleinen Mädchen geschieht, welches in eben diesen Brunnen gestoßen wird und dort ausharren muss, bis es ihm endlich Schlag 22 Uhr gelingt, in die Freiheit zu klettern. Alle Kinder in Weißenburg wissen, dass es die Zeit ist, um die der Nachtgieger in der Dunkelheit hungrig durch die historischen Gassen der Altstadt streift!

Fabia Mortis

Wenn das Kind

in den Römerbrunnen gefallen ist

Rosi radelt in eben diesem Moment am römischen Wachturm vorbei. Die Fahrradlampe wirft einen flackernden Schein auf das dunkle Gelände. Nicht weit entfernt sieht sie die Lichter der angrenzenden Häuser. Mit den platten Reifen kommt sie allerdings nicht allzu schnell voran. Sie fährt in einem halbwegs vernünftigen Tempo, damit sie zu allem Überfluss nicht auch noch vom Rad fällt. Den heißgeliebten Drahtesel will sie keinesfalls zurück lassen. Außerdem ist sie damit auf jeden Fall schneller zuhause als zu Fuß.

Sie fröstelt, als sie plötzlich von einem eiskalten Luftzug berührt wird. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellen sich auf. Sie fühlt eine wohlbekannte Präsenz. Etwas fliegt mit kaum wahrnehmbarem Flügelschlag über sie hinweg.

Rosi hält erschrocken an und blickt in den Nachthimmel hinauf. Ihr stockt der Atem, als sie die düstere Gestalt sieht oder vielmehr erahnt. Er ist gigantisch groß. Wie ein Geist verschmilzt er mit den Schatten. Elegant landet er auf dem Dach des hölzernen Turms und legt vor der atemberaubenden Kulisse des prachtvollen Vollmondes gemächlich die riesenhaften Schwingen an. Schrägstehende Raubtieraugen glühen rubinrot in der Finsternis.

Entsetzt realisiert Rosi, dass er keine Federn hat, sondern Flügel aus schwarzpolierter Haut. Wie ein zu groß geratener Vampir. Seltsamerweise macht ihr das in dem Augenblick am meisten Angst. Sie weiß, er hat sie im Visier. Ob es schlimm weh tut, wenn man gefressen wird?

Rosi überlegt nicht lang. Sie löst sich aus der Schockstarre und tritt energisch in die Pedale. Denn sie möchte keinesfalls gefressen werden. Es tat mit Sicherheit ziemlich schlimm weh!

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